Im Jahr 2019 gab es in Deutschland über 4,1 Millionen pflegebedürftige Menschen – diese Zahl wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch einmal deutlich ansteigen. Die Pflegebedürftigen sind nur noch teilweise oder gar nicht mehr dazu in der Lage, sich selbst zu versorgen und benötigen Hilfe von ausgebildeten Pflegekräften, die auf ihre unterschiedlichen Bedürfnisse eingehen. Genau diese Personen fehlen allerdings vielerorts.
Immer weniger Pflegekräfte müssen sich um immer mehr Pflegebedürftige kümmern – in Deutschland kennen wir dieses Problem unter dem Begriff „Pflegenotstand“, der sich im Laufe der Corona Pandemie noch einmal deutlich verschlimmert hat.
Für den aktuellen Personalmangel in der Pflegebranche gibt es mehrere Gründe, im Mittelpunkt stehen hierbei allerdings fast immer die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Doch wie konnte es dazu kommen? Dieser und weiteren Fragen möchten wir mit unserem Artikel auf den Grund gehen.
Wie hat sich der Pflegenotstand entwickelt und was sind die Folgen?
Das grundsätzliche Problem des Pflegenotstands ist der Personalmangel und besteht schon seit mehreren Jahrzehnten.
Die Situation wird vom demographischen Wandel zusätzlich befeuert: Auf der einen Seite gehen die geburtenstarken Jahrgänge (von denen zurzeit auch viele in der Pflegebranche beschäftigte sind) ab dem Jahr 2030 in Rente, was dazu führt, dass der prozentuale Anteil von Rentnern in der Gesellschaft immer weiter steigt. Auf der anderen Seite werden die Menschen in Deutschland auch immer älter – dadurch müssen sie auch länger gepflegt werden, zudem steigt die Wahrscheinlichkeit einer Pflegebedürftigkeit, je älter ein Mensch wird.
Gleichzeitig ist die Situation in vielen Alten- und Pflegeheimen schon jetzt fatal. Für die Grundbedürfnisse der Pflegebedürftigen bleibt oft viel zu wenig Zeit, zudem rückt der finanzielle Aspekt immer mehr in den Fokus.
Je höher die Pflegebedürftigkeit, desto mehr zahlt die Pflegeversicherung – oft wird durch schlechte Pflege Geld verdient, indem Betreiber die Differenz zwischen schlechten Löhnen ihrer Angestellten und den hohen Beiträgen der Versicherer in die eigene Tasche wirtschaften, während die Qualität der Pflege für die Betroffenen auf der Strecke bleibt, denn auch in der Pflege gilt der Grundsatz, dass die Zufriedenheit von Arbeitnehmern sich in guter bzw. schlechter Leistung widerspiegelt.
Unter anderem aus diesem Grund ist Selbstständigkeit in der Pflegebranche von vielen Arbeitgebern nicht gerne gesehen und wird dementsprechend schlecht gefördert.
Selbstverständlich sind diese Zustände nicht in allen Einrichtungen zu finden und es gibt auch sehr gute Pflegeanbieter. Wenn du Angehörige in einer Pflegeeinrichtung unterbringen willst, empfehlen wir dir, dich vorher gut über den Anbieter zu informieren und einen Besuch vor Ort zu machen, um dir die Verhältnisse vor Ort anzuschauen, mit Mitarbeitern zu sprechen und dich – falls möglich – auch mit Patienten auszutauschen.
Wie sieht die aktuelle Personalsituation in Deutschland aus?
Momentan gibt es in Deutschland ca. 1,4 Millionen Pflegekräfte, die sich um über vier Millionen Pflegebedürftige kümmern müssen. Damit wird in den meisten Einrichtungen der sog. Personalerfüllungsgrad der Pflegepersonalregelung (PPR) nicht erfüllt – um dieses Ziel zu erreichen, fehlen aktuell 120.000 zusätzliche Pflegekräfte.
Durch die Corona Pandemie hat sich die Situation noch einmal zusätzlich verschlechtert, denn die Belastung des Pflegepersonals ist durch pflegeintensivere Patienten, zusätzliche Arbeitsbelastung durch den Ausfall von Kollegen in Quarantäne und nicht zuletzt geringer Wertschätzung weiter gestiegen – viele Pflegekräfte leiden laut aktuellen Studien seither unter Angst- und Schlafstörungen oder zeigen Symptome einer Depression.
Wenn sich der aktuelle Trend fortsetzt, wird sich der Pflegenotstand in den kommenden Jahrzehnten weiter verschlimmern. Laut aktuellen Berechnungen geht man davon aus, dass es in Deutschland im Jahr 2060 ca. 4,5 Millionen Pflegebedürftige geben wird, gleichzeitig wird die Zahl der Pflegekräfte zurückgehen. Dies wird aller Voraussicht nach zu einem Defizit von 350.000 bis 500.000 Pflegern führen, wenn nicht rechtzeitig gegengesteuert wird.
Welche Gründe haben zum Pflegenotstand geführt?
Die Gründe für den Pflegenotstand sind sowohl systematische als auch gesellschaftliche. Folgende konkrete Probleme wiegen am schwersten:
- Schlechte Entlohnung: Ein Krankenpfleger verdient im Schnitt 3.180 € brutto im Monat, ein Altenpfleger kommt auf 2.621 €.
- Schlechte Arbeitsbedingungen: Die Arbeit von Pflegekräften ist oft von einem hohen Stressniveau sowie körperlichen und psychischen Belastungen geprägt, gleichzeitig wird ihre Arbeit von der Gesellschaft, aber auch vom Arbeitgeber kaum wertgeschätzt. Dies führt bei vielen zu einem Motivationsverlust und Abwanderung in andere Branchen.
- Das System: Die Finanzierung vieler Pflegeeinrichtungen beruht auf der Pflegeversicherung und erlaubt in vielen Institutionen keine Neueinstellungen von Pflegekräften, um den Gewinn zu maximieren.
- Stationäre Pflege: Immer mehr Menschen benötigen eine stationäre Pflege. Während der Pflegeschlüssel in der ambulanten Pflege bei einer Pflegekraft für zwei Patienten liegt, ist das Verhältnis in der stationären Pflege 1:1. Hierdurch wird mehr Personal benötigt.
- Zeitarbeitsfirmen: Viele Pflegeeinrichtungen beschäftigen Zeitarbeitsfirmen, um ihren Personalmangel auszugleichen. Durch die hohen Margen dieser Firmen, die bei der Vermittlung von Personal anfallen, werden die ohnehin schon geringen Gehälter in der Pflege weiter gedrückt. Gleichzeitig erhalten Leiharbeiter oft höhere Gehälter bei kürzeren Arbeitszeiten. Dies erhöht die Frustration bei den festangestellten Pflegern, die meistens im Schichtdienst arbeiten.
- Der demographische Wandel: Wie schon im Vorangegangenen erwähnt, werden in Deutschland in Zukunft immer mehr ältere Menschen darauf angewiesen sein, von jüngeren versorgt zu werden, die jedoch in einigen Jahrzehnten wahrscheinlich deutlich in der Unterzahl sein werden.
In welchen Pflegebereichen ist die Situation am prekärsten?
In der Altenpflege ist der Pflegenotstand besonders hoch – nach aktuellen Erhebungen des Bundesgesundheitsministeriums dauert es im Schnitt 171 Tage, bis ausgeschriebene Stellen mit einer qualifizierten Fachkraft besetzt sind. Dies liegt u.a. auch daran, dass nur vergleichsweise wenige Arbeitssuchende die nötigen Qualifikationen für die Altenpflege besitzen.
Auch Krankenhäuser haben im Bereich der Pflege ein großes Personalproblem – gerade unter jungen Pflegern ist die Fluktuation besonders hoch, da diese aus Unzufriedenheit über die hohe Belastung und dem gleichzeitig niedrigen Lohn nicht lange in diesem Beruf bleiben.
In der ambulanten Pflege herrscht ebenfalls akuter Personalmangel, was dazu führt, dass Pflegedienste viele Anfragen ablehnen müssen und Angehörige kaum Fachkräfte für die Intensivpflege vor Ort finden. Da ambulante Pflegekräfte im Durchschnitt ca. 900 € brutto weniger verdienen als ihre Kollegen in der stationären Pflege, ist es hier für Anbieter besonders schwierig, qualifizierte Arbeitskräfte zu finden.
Was wird getan, um den Pflegenotstand aufzuhalten?
Die Politik hat den Ernst der Lage erkannt und nun erste Schritte unternommen, um dem Pflegenotstand entgegenzuwirken. Zu den folgenden Themen sind im Jahr 2020 Gesetze verabschiedet worden:
- Förderung von Fachkräfteeinwanderung: Es wurden verschiedene Maßnahmen getroffen, um ausländischen Pflegekräften die Einreise und Arbeit in Deutschland zu erleichtern.
- Verbesserung der Pflege im Krankenhaus: In Krankenhäusern sollen in Zukunft die Personalkosten für die Pflege am Bett ermittelt und vom Kostenträger übernommen werden.
- Einführung einer Generalistikausbildung: In Zukunft wird es keine getrennte Ausbildung für Kranken-, Alten- und Gesundheitspfleger mehr geben, sondern eine einheitliche Ausbildung zum „Pflegefachmann“ bzw. „Pflegefachfrau“, die in der gesamten EU anerkannt wird. Diese Ausbildung ist kostenfrei und muss mit einem Ausbildungsgehalt vergütet werden.
- Bessere Löhne: Für die Pflegebranche werden verbindliche Lohnuntergrenzen geschaffen, außerdem ist im Rahmen der Pflegereform 2021 ein Tarifvertrag vorgesehen, der mit der Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) und der Verdi-Gewerkschaft abgeschlossen wird.
Wie sieht die Zukunft der Pflegebranche aus?
Nach der Meinung von Experten gehen die oben genannten Schritte zwar in die richtige Richtung, allerdings seien noch weitere Maßnahmen nötig, um den Pflegenotstand effektiv aufzuhalten.
Zu ihren Forderungen zählen unter anderem die Verbesserung der Einstiegs-, Fortbildungs- und Umstiegschancen, die Vergütung von längeren Arbeitszeiten sowie die Einführung eines Personalschlüssels, der für Kliniken verbindlich ist.
Nur wenn Pflegeinrichtungen und die Politik in den kommenden Jahren eng zusammenarbeiten, ist es möglich, das Personalproblem in der Pflegebranche nachhaltig zu lösen.
Es geht nicht nur um faire Arbeitsbedingungen für die Beschäftigen, sondern auch um die Würde der Patienten – hierbei sollte niemand vergessen, dass sowohl unsere Angehörigen als auch wir irgendwann alt sein werden und ggf. Pflege benötigen.
Allein aus diesem Grund sollte sich jeder dafür einsetzen, die aktuellen Bedingungen in der Pflege zu verbessern und nicht zuletzt Pflegekräften die Anerkennung zuteilwerden zu lassen, die sie verdienen.
Wenn du dich gerne tiefergehend mit dem Thema Pflegenotstand beschäftigen möchtest, können wir dir das folgende Buch ans Herz legen: "Pflege im Fokus: Herausforderungen und Perspektiven - warum Applaus alleine nicht reicht."