Dem Bundesforschungsministerium zufolge erkranken jährlich 300.000 Deutsche an Demenz. Da die Anzahl der Neuerkrankungen im Vergleich zu den Sterbefällen überwiegt, wächst diese Fallzahl zudem um 40.000 Betroffene pro Jahr.
Die Symptomatik stellt mit Orientierungslosigkeit, Gedächtnisverlust sowie Sprach- und Denkstörungen eine enorme Belastung für Betroffene und deren Angehörige dar.
Dies ist nicht zuletzt der Grund für die zunehmende Förderung der Demenz- und speziell der Alzheimerforschung. Projekte zur Frühdiagnose, zur Prävention und letztendlich zur Krankheitstherapie untersuchen zahlreiche Ansätze, um die Lebensqualität der Patienten zu verbessern.
Aducanumab ist der Name eines neuen Wirkstoffes, über dessen Markttauglichkeit die amerikanische Arzneimittelbehörde 2021 ein Urteil fällen wird. Die Wirkungsweise sowie die Möglichkeiten und Risiken des Medikaments werden im Folgenden diskutiert.
Degenerativer Verlauf – die Demenzstadien
Den drei üblichen Krankheitsstadien einer Demenz geht eine präklinische Phase voraus. Dabei treten strukturelle Veränderungen im Gehirn auf, welche die spätere Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten verursachen. Allerdings sind Betroffene in diesem Zeitraum häufig symptomfrei, weshalb zum Diagnosezeitpunkt in den meisten Fällen bereits eine fortgeschrittene Erkrankung vorliegt.
Die leichte Demenz markiert das erste Stadium des Krankheitsverlaufs. Das Verlegen von Alltagsgegenständen oder das Vergessen von Terminen sind Indikatoren für eine Störung des Kurzzeitgedächtnisses.
Es folgt die mittelschwere Demenz, welche einen zunehmenden Verlust des Erinnerungsvermögens, der Orientierung und der Kommunikationsfähigkeiten umfasst. Damit geht häufig eine starke psychische Belastung einher. Die Orientierungslosigkeit und der Verlust von Erinnerungs- und Erkennungsfähigkeiten können Verwirrung und Angst auslösen.
Im dritten Stadium, der schweren Demenz, kommt es zunehmend zu Kontrollverlusten der körperlichen Aktivität, weshalb Betroffene zunehmend auf Hilfe angewiesen sind. Eine allgemeine Erschöpfung und Schwierigkeiten im Sprachausdruck kennzeichnen dieses späte Stadium.
Alzheimer – Krankheitsbild der Demenzvariante
Demenz tritt in vielen Formen auf, doch fast jeder dritte Patient leidet an der Ausprägung Morbus Alzheimer. Trotz der langen Geschichte der Alzheimer Krankheit seit ihrer Entdeckung im Jahre 1901 konnten die Ursachen noch nicht gänzlich aufgeklärt werden.
Allgemein gilt, dass die Kommunikation der Hirnareale und die damit verbundene Informationsverarbeitung durch die Schädigung von Synapsen beeinträchtigt wird. Im Fokus der Forschung stehen zwei Arten von Eiweißablagerungen, welche das Absterben der Nervenzellen bedingen.
Die erste Form sind Neurofibrillen, welche als fädige Strukturen die Axone der Nervenzellen durchziehen. Sie bestehen aus dem sogenannten Tau-Protein, welches im Fall der Alzheimer Erkrankung ein Übermaß an chemischen Verbindungen eingeht. Die Störung des Stoffwechselgleichgewichtes führt schließlich zum Zelltod. Am Ort der Nervenzelle bleibt lediglich das Eiweißbündel der Neurofibrillen zurück.
Die zweite Ursache der neuronalen Degeneration der Alzheimer-Demenz bilden sogenannte Plaques. Der Amyloid-Kern dieser Proteine stört das Transmittersystem, welches für die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen verantwortlich ist. Zudem wird die Hirndurchblutung beeinträchtig, was zu einer weiteren Verschlechterung der Zellaktivität führt.
Neben diesen neuronalen Schädigungen können auch andere biologische, genetische und soziale Faktoren die Nervenzelldegeneration verursachen, doch der Aducanumab-Wirkstoff bezieht sich vorrangig auf die oben genannten Amyloid-Ablagerungen.
Entdeckung von Aducanumab als Alzheimer-Medikament
Der Neurowissenschaftler Roger M. Nitsch erforschte gemeinsam mit seinem Kollegen Christoph Hock die biologischen Merkmale von geistig leistungsstarken Menschen hohen Alters. Im Blut zahlreicherer Teilnehmer fanden sie spezialisierte Immunzellen, welche Antikörper gegen die Amyloid Ablagerungen freisetzen. Die Plaques werden folglich abgebaut und die Demenzsymptomatik wird gemildert.
Die Züricher Arbeitsgruppe von Nitsch und Hook baute nun die molekulare Struktur des Antikörpers im Labor nach. Ziel war es dabei, einen Wirkstoff zu entwickeln, welcher die Blut-Hirn-Schranke überwindet und die Amyloid Ablagerungen bei dementen Patienten abbauen kann. Der Antikörper markiert die Eiweißablagerungen, woraufhin sie von Immunzellen erkannt und aufgespalten werden können. Dies gelang ihnen an Tiermodellen, wo Amyloid erfolgreich vom Antikörper gebunden und die Anzahl der Plaques dosisabhängig reduziert wurde.
Unter dem Namen Aducanumab erwarb die amerikanische Firma Biogen die Lizenz zur wirtschaftlichen Nutzung des Medikaments. Die PRIME Studie des US-Unternehmens aus dem Jahr 2016 lieferte vielversprechende Ergebnisse. Bei den 166 Versuchspersonen wurde nach regelmäßiger Einnahme von Aducanumab eine erhebliche Reduktion der Amyloid Ablagerung und leichte Verbesserungen der Gedächtnisleistungen verzeichnet. Nun folgten die Phase-III-Studien, um die Zulassung als Alzheimer-Medikament in die Wege zu leiten.
Placebostudien ENGAGE und EVOLVE
Die klinische Testphase ist für neue pharmakologische Wirkstoffe entscheidend für die angestrebte Marktzulassung. Unter den Namen ENGAGE und EMERGE wurde der Medikamententest an 3285 Patienten und Patientinnen durchgeführt, welche per Zufall entweder einer Placebo- oder einer Medikamentengruppe mit hoher oder niedriger Dosierung zugeordnet wurden.
In den beiden Parallelstudien wurden Betroffene im frühen Alzheimer-Stadium aus 20 Ländern, auch aus Deutschland, untersucht. Im März 2019 wurden die Studien allerdings aufgrund einer ernüchternden Zwischenanalyse vorzeitig gestoppt. Forscher, Ärzte und Patienten reagierten weltweit mit Bestürzung, da sich Aducanumab anscheinend in die Reihe von gescheiterten Alzheimer-Medikamenten einordnen sollte.
Den Teilnehmern wurde es allerdings freigestellt, ob sie die Studie für die ursprünglich geplante Dauer von 18 Monaten weiterführen wollen. 2066 Teilnehmer und Teilnehmerinnen nahmen dieses Angebot an.
Schließlich stand zum zweiten Endzeitpunkt der Studien ein größerer Datensatz zur Verfügung, welcher erstaunliche Ergebnisse lieferte: zum Studienende wies die ENGAGE Studie keine signifikanten Veränderungen auf. Im Fall der EMERGE Ergebnisse wurde allerdings eine deutliche Verbesserung der Aducanumab-Gruppe gegenüber der Kontrollgruppe verzeichnet.
Bewertungsskalen wie die Mini-Mental State Examination konnten im Vergleich zu den Werten vom Studienstart Verbesserungen in der mentalen Gesundheit verdeutlichen. Mittels eines PET-Scans konnte zudem die Reduktion der Amyloid Ablagerungen nachgewiesen werden. Die Zulassung wurde demnach bei der FDA, der US-Behörde für Arznei- und Lebensmittel, beantragt.
Ernüchterung bei Expertentagung
Über die Marktzulassung sollte zunächst bis Anfang März 2021 entschieden werden. Dieser Zeitraum wurde bereits auf Ende Juni verschoben. Nicht zuletzt liegt eine Ursache dafür in einer Tagung der FDA, welche ein Urteil von 11 unabhängigen Experten einholte.
Das behördliche Urteil ist nicht zwingend an das Gutachten gebunden, orientiert sich aber üblicherweise stark daran. Die plötzliche Wende der Forschungsergebnisse mag ein Grund sein, weshalb 10 der 11 externen Experten keinen eindeutigen Beweis für die Wirksamkeit von Aducanumab feststellen konnten.
Die Entscheidung der FDA ist abzuwarten und die Hoffnung auf ein wirksames Medikament bleibt, besonders aufgrund der jahrelang erfolglosen Pharmaka-Forschung gegen Morbus Alzheimer, bis Juni bestehen.
Demenzrisiko – Maßnahmen und Strategien zur Prävention
Abgesehen von der pharmakologischen Behandlung nach Eintritt der Erkrankung, kann dem Demenzrisiko in jedem Alter vorgebeugt werden. Die Gehirnentwicklung ist mit der Geburt nicht abgeschlossen.
Neuronale Plastizität beschreibt jenen Prozess, welcher es ermöglicht, dass sich ein Leben lang neue Synapsen und Nervenzellen bilden. Durch geistige Aktivität, dem Lösen von Aufgaben oder der sozialen Interaktion werden Nervenverbindungen stimuliert und gestärkt.
Mit dem Aspekt der optimalen Hirndurchblutung sind der Verzicht auf das Rauchen sowie eine ausgewogene Ernährung und ausreichend Bewegung verbunden. Zudem sollte das Risiko für Hirnverletzungen durch Vorsicht beim Sport oder das Tragen eines Helmes beim Fahrradfahren gemindert werden.
Auch psychischer Stress kann sich negativ auf das chemische Gleichgewicht im Gehirn auswirken. Sich eine Auszeit zu nehmen, um langanhaltenden Stress zu vermeiden, kann daher ebenfalls eine Präventionsmaßnahme gegen Demenzerkrankungen darstellen.
Da eine Demenz durch zahlreiche Faktoren bedingt ist – in manchen Fällen auch durch genetische Ursachen, welchen nicht vorgebeugt werden kann, liegt der Fokus nach wie vor auf der Demenztherapie.
Das Forschungsfeld untersucht eine Vielzahl von Behandlungsmethoden und die Hoffnung auf potenzielle Medikamente wie Aducanumab bleibt bestehen. Auch aus Verzweiflung hoffen Forscher, Ärzte und Patienten auf einen Durchbruch in der Entwicklung von Alzheimer-Medikamenten, da diese in den vergangenen Jahren viele Rückschläge zu verzeichnen hatte.